Kalter Entzug – ein spannender Selbstversuch im Nichtstun
Ausgerechnet am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, starte ich meinen Selbstversuch: Vier Stunden lang NICHTS tun. Also NICHTS, wirklich nichts! Dass das für mich eine echte Herausforderung werden würde, ahne ich schon. Denn ich, die an vollgestopften 12-Stunden-Tagen als freiberufliche Werbetexterin gedanklich quer durch völlig unterschiedliche Themen hin und her fliegt, kann nicht NICHTS tun! Ständig bin ich mental unter Hochspannung. Ständig bin ich online. Das geht schon so weit, dass ich sogar während eines Films mindestens 2-3 Mal aufs Smartphone schaue, um zu sehen „was es Neues gibt“! So fliegen die Stunden, Tage, Monate dahin. Schon wieder Mai. Schon wieder ist fast ein halbes Jahr vorbei ...
Meine Rast- und Ruhelosigkeit empfinde ich zunehmend als anstrengend. Ich bin eine Meisterin der Ablenkung. Und abhängig davon. Kein schöner Gedanke. Da lese ich vor einigen Tagen – natürlich online (!) – das Zitat der Sängerin Judith Holofernes im ZEIT Magazin. Sie berichtet vom Nichtstun und was es mit ihr macht.
Das will ich auch: Gold finden. Der 1. Mai erscheint mir ideal für dieses Experiment. Ich bin allein, was wahrscheinlich eine Grundvoraussetzung ist. Das Wetter ist nur semi-gut. Jedenfalls nicht gut genug, um mich mit aller Macht nach draußen zu ziehen, wie es Temperaturen über 15 Grad sonst gerne tun. Ich habe gut gefrühstückt, denn auch Hunger ist (bei mir) extrem kontraproduktiv für jegliche Art von Experimenten!
Also: Handy aus. Musik aus. Alles aus – und ab auf die Couch. Sitzen oder liegen? Judith lag, also liege ich auch. Es dauert keine 10 Minuten und ich schlafe ein. Nur kurz zum Glück. So geht das nicht. Also sitzen! Genau im Blick hängt die Uhr in der Küche. Das geht GAR NICHT. Ich stehe auf, hänge ein Geschirrhandtuch über die Küchenuhr. Augen auf oder Augen zu? Augen auf, sonst schlafe ich wieder ein. Die Gedanken fliegen nur so durch meinen Kopf. Der Blick schweift, sucht Halt. Bleibt hängen an den Kunstwerken über dem Sofa. Ich entdecke Details, die ich noch nie gesehen habe. Das ist doch auch Ablenkung, denke ich. Du schummelst! Du sollst nicht Kunst anschauen. Du sollst nichts tun! Kopf nach hinten, Blick an die Decke... Muss ganz schön schwierig gewesen sein, die Decke so gleichmäßig zu streichen ... Ich könnte jetzt auch die Fenster putzen, nötig wär´s. Und da liegt noch eine ganze, ungelesene ZEIT ...
Der Nacken wird steif. Wo soll ich nur hinschauen? Eine Fliege setzt sich auf mein Bein und tut ... nichts. Minutenlang. Kann eine Fliege besser nichts tun als ich? Können Fliegen denken? Quatsch, die haben gar kein Gehirn. Oder doch? Was weiß ich überhaupt über Fliegen? Nichts!
Oder die Fische im Aquarium. Die tun den ganzen Tag lang nichts. Was für ein langweiliges Leben!
Ich muss mal. Darf man Pippi machen, wenn man nichts tut? Nein, das lenkt ab. Da muss ich jetzt durch. Wahrscheinlich ist es sowieso nur ein Trick meiner Blase, um mich abzulenken!
Ich rutsche auf der Couch herum. Immer noch fliegen 1000 Gedankenfetzen durch meinen Kopf, spielen Ping-Pong, von einem Thema zum anderen. Wie spät mag es wohl sein? Es ist doch sicher schon eine Stunde rum?! Nach gefühlten 1-2 Stunden sitze ich im Schneidersitz auf der Couch. Der Blick geht nach draußen, ins Grüne. Im Zimmer lenkt mich zu viel ab. Draußen ist es grau, es regnet inzwischen und ich erkenne nicht, ob es halb 2, halb 4 oder halb 6 ist.
Irgendwann bemerke ich, wie ich mit dem Oberkörper immer gleichmäßig vor und zurück wippe. Ich fühle mich wie im Leerlauf. Öde im Kopf. Langeweile pur. Kalter Entzug.
Was mache ich hier eigentlich für einen Quatsch? Und was könnte ich jetzt sonst alles erledigen! Es ist schrecklich. Ich will aufstehen. Tausend Dinge tun. Oder wenigstens aufschreiben. Und zwinge mich zum Sitzenbleiben. Da muss ich jetzt durch! Punkt.
Eine gefühlte weitere Stunde später werden die Gedanken endlich ruhiger, weniger. Sie gehen nie ganz weg, ich bin aber inzwischen deutlich entspannter, gelassener. Es fühlt sich besser an, als noch vor einer Stunde. Ich gewöhne mich schnell und gern an den neuen Zustand. Sitze da, schaue raus und tue NICHTS. Jetzt müssen doch schon mindestens drei Stunden rum sein?! Oder sogar vier. Ist dies das Gold, von dem Judith Holofernes sprach?
Als ich sicher bin, dass ich mindestens vier Stunden nichts getan hatte – und mir auch die Blase signalisiert, dass es jetzt mal gut ist – mache ich Schluss mit dem Nichtstun. Und erschrecke beim Blick auf die Uhr. Gerade mal 2,5 Stunden hatte ich es geschafft, nichts zu tun. Dennoch geht es mir gut und es fühlt sich überhaupt nicht wie vertane Zeit an.
Mein Fazit: Gold habe ich nicht gefunden, aber eine ganz wichtige Erkenntnis gewonnen: Die Zeit vergeht viel langsamer, wenn man nichts tut. Und ist es nicht genau das, was wir uns immer wünschen: Dass die Zeit nicht so schnell vergeht? Ich werde in Zukunft öfter offline gehen, nichts tun und daran arbeiten, dass es mir vielleicht sogar irgendwann mal gelingt, nichts zu denken. Zumindest dann, wenn ich es will.
Über die Autorin
Annette Jarosch ist freiberufliche Werbetexterin aus Herrsching am Ammersee und seit 18 Jahren selbstständig. Sie schreibt am liebsten emotionale Werbetexte, weil sie – wie viele Neurowissenschaftler – überzeugt ist, dass alles, was keine Emotionen erzeugt, für das Gehirn wertlos ist. www.annettejarosch.de
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